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Der Traum ist nicht ausgeträumt

Data publikacji: 25 lipca 2019 r. 14:07
Ostatnia aktualizacja: 25 lipca 2019 r. 14:07
Der Traum ist nicht ausgeträumt
Grüßen in Porajów (Polen) bei Zittau (Deutschland) Foto: © Peggy LOHSE  

Vor 15 Jahren traten Polen und Tschechien der Europäischen Union bei. Seitdem hat sich viel verändert. Die Anfangseuphorie ist verflogen, europaskeptische Stimmungen nehmen zu. Zwischen Zittau, Liberec und Bogatynia sind europäische Entwicklungen sichtbar. Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen, wie unterschiedlich sie wahrgenommen werden.

Die ostdeutsche Kleinstadt Zittau im Dreiländereck Deutschland/Tschechien/Polen absolvierte Ende Mai gleich drei Wahlen: Kommunalwahlen, Wahlen zum Europa-Parlament und einen Bürgerentscheid zur Bewerbung um den Titel als Kulturhauptstadt 2025. Alles dreht sich im östlichsten Zipfel Deutschlands um Europa. Aber die Region gilt noch immer als eher rückständig und mitten im Strukturwandel begriffen. Jüngere ziehen fort in die Großstädte, oft gen Westen. Im heutigen Kreis Görlitz ist die Einwohnerzahl seit dem Mauerfall um mehr als ein Viertel zurückgegangen. In den Nachbarkreisen Bogatynia und Liberec wächst die Bevölkerung dagegen leicht (Bogatynia) bis stark (Liberec) an. Die Industriegebiete der drei Städte am Dreiländerpunkt sind noch lange nicht voll ausgelastet. Migration und ausländische Investitionen könnten Lösungen sein.

Alltäglicher Grenzverkehr

Michaela Herlingová, damals noch Bauerová, pendelte kurz vor der EU-Osterweiterung 2003 aus dem tschechischen Hrádek zum Studium nach Zittau. „Mit dem Fahrrad, denn mit dem öffentlichen Verkehr hätte ich um 4 Uhr 45 starten müssen.“ Die zwei Städte liegen sechs Kilometer auseinander, der direkte Weg führt durch Polen. Aber vor 2004 und noch bis zum Schengen-Beitritt der östlichen Nachbarn Ende 2007 gab es Schlangen an den Grenzen. „Die Zeit musste ich jeden Morgen einrechnen. Da galt nicht ‚Wir kennen uns‘. An beiden Grenzen hieß es immer wieder Ausweis zeigen. Das war krass“, erinnert sich Herlingová. Im Jahr des EU-Beitritts ihres Heimatlandes Tschechien zog sie dann nach Zittau.

Infrastruktur und öffentlicher Verkehr sind wichtige Themen im Dreiländereck. Regelmäßigen Linienverkehr gibt es nur zwischen Görlitz und Zittau sowie von Zittau über Hrádek nach Liberec. Beide Strecken bedient die Privatbahn der „Länderbahn“-Marke trilex. Darum luden Anfang April 2019 der Liberecer Verkehrsverbund und das Euroregions-Projekt „TransBorders“ im Rahmen eines Partnertreffens im tschechischen Frýdlant zur Zugrundfahrt ums Dreiländereck. Über wenig befahrene Gleise führte die Tour im modernen Niederflurtriebwagen von Liberec nach Zgorzelec und Görlitz. Viele Polen pendeln aus dieser Region in das wirtschaftsstarke Liberec. Seit 1991 verkehren hier aber schon keine Passagierzüge mehr. Anwohner, Politiker und Verkehrsverbünde aus allen drei Ländern wünschen sich eine Wiederbelebung. Zugführer Michal Barták, Leiter der tschechischen Seite des deutschen Unternehmens „Die Länderbahn“, führt die Sonderfahrgäste dreisprachig durchs Dreiländereck.

Über die böhmischen Orte Mníšek und Frýdlant geht es auf maroden Gleisen durch das westliche Niederschlesien. Der moderne Zug ruckelt so langsam und laut, dass die Ansagen kaum zu verstehen sind. Vorbei ziehen frei stehende Einfamilienhäuser, kleine Gehöfte und hölzerne Umgebindehäuser, wie sie für die Region typisch sind. Im kleinen polnischen Grenzort Zawidów bringt uns die Gemeinde ein musikalisches Ständchen auf dem Bahnsteig des alten Bahnhofs. 

Im benachbarten Sulików winken Anwohner dem Zug hinterher. Kurz vor Zgorzelec mehren sich die Neubau-Eigenheim-Siedlungen entlang der Strecke. Wer von hier aus nach Liberec pendelt, braucht mit öffentlichen Verkehrsmitteln eineinhalb bis drei Stunden. Mit einer direkten Eisenbahnlinie wäre es insgesamt in einer guten Stunde zu schaffen.

Seit 15 Jahren lebt die heute 35-jährige Michaela Herlingová nun schon in Zittau, sie arbeitet im und für das ganze Dreiländereck. Bauerová und Martin Herling küssten sich zum ersten Mal auf einer EU-Beitritts-Jubiläumsfeier am Dreiländerpunkt. Acht Jahre ist das her. Heute sind sie verheiratet, Bauerová heißt nun Herlingová, sie haben zwei Kinder und sich für Zittau als Lebensmittelpunkt entschieden. Herlingová ist Koordinatorin für internationale Jugend- und Begegnungsarbeit im Projekt „Lanterna Futuri“ des soziokulturellen Vereins Hillersche Villa. Angefangen hat sie 2006 als Praktikantin im Theaterprojekt, mittlerweile liegt der Schwerpunkt auf Art & Science. Es gibt eine Kooperation mit iQLANDIA aus Liberec und dem der Technischen Universität Dresden angegliederten Internationalen Hochschulinstitut (IHI) in Zittau. Alle Projekte laufen dreisprachig ab, die Teilnehmenden kommen aus Deutschland, Tschechien und Polen. Englisch ist Arbeitssprache. „Ich bin stolz auf die Region und sehr glücklich, dass man sich hier frei entfalten kann. Diese Freiheit ist hier sehr spürbar, diese Freizügigkeit, besonders seit 2004.“

Kultur statt Kriminalität

Die weit verbreitete und bis heute oft von rechten Populisten propagierte Angst, mit dem Wegfall der Grenzkontrollen würde die Kriminalität in die Höhe schnellen, hat sich nicht bestätigt. Tatsächlich zeigt die jüngste polizeiliche Kriminalstatistik zum Jahr 2018 für die Oberlausitz, also für die Landkreise Görlitz und Bautzen, den tiefsten Stand seit Öffnung der Grenzen im Jahr 2008 an, er liegt etwa zehn Prozent niedriger als zu der Zeit, als an den Grenzen noch täglich kontrolliert wurde. Die Eigentumskriminalität stellt zwar noch immer die häufigsten Straftaten, ist dennoch seit Jahren rückläufig – im Jahr 2018 liegt sie um vier Prozent niedriger als im Vorjahr. Beim Fahrzeugdiebstahl für sich genommen liegen die Zahlen noch niedriger, es gibt einen Rückgang von rund 25 Prozent. Als Erfolgskonzept gilt hier die verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit plus Kontrollen.

„Eines habe ich hier in Zittau gelernt“, ergänzt Herlingová stolz. „Politik ist Engagement! Erhebe Deine Stimme – hier in Zittau kannst Du das machen. Aus Kontakten sind jetzt schon echte Freundschaften geworden. Es sind die Menschen, die das bewirken, die präsent sind und sich dafür interessieren. Die Qualität der Zusammenarbeit ist besser geworden. Wir machen nicht mehr nur gemeinsame Gedenk-Ausflüge nach Auschwitz oder Theresienstadt, sondern besprechen auch aktuelle Themen offen miteinander.“ Herlingová ist auf der deutschen Seite des Dreiländerecks erwachsen geworden und hat ihren Platz im Leben gefunden.

Thomas Zenker, Jahrgang 1975, stammt ursprünglich aus Zittau. Nach der Schule zog es ihn zunächst einmal fort: Erst nach seinem Studium in Leipzig, Paris und Berlin kam er ans IHI nach Zittau zurück, unterrichtete Deutsch als Fremdsprache, arbeitete freiberuflich als Sprach- und Kommunikationstrainer und für eine Lokalzeitung. Er engagierte sich an der Hillerschen Villa, wurde Kreisrat in Görlitz und führte dann die Bürgerinitiative „Zittau kann mehr“ an. Heute ist er Zittaus Oberbürgermeister.

„Lange war die Grenze hier wie die Berliner Mauer“, erinnert sich Zenker auf einer Busrundfahrt mit einer EU-Delegation im Rahmen der Lausitzer Zukunftswerkstatt Mitte April. „Heute geht es oft nur noch um Sprachprobleme. Bildung und Kultur sind Pioniere der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.“ In diesen Bereichen gebe es kaum widersprüchliche Interessen, alle Akteure zögen an einem Strang. Zum Beispiel beim Fremdsprachenunterricht an den Schulen. An einer städtischen und einer freien Schule in Zittau werde Tschechisch als Fremdsprache angeboten. Tschechisch und Polnisch sollten bald feste zweite Fremdsprache werden. In der polnischen Partnerstadt Bogatynia lernten schon jetzt alle Schüler ab der Grundschule neben Polnisch und Englisch auch Deutsch.

Zenker grüßt im Vorbeifahren einen Grenzpolizisten. Im Bus herrscht Klassenfahrtstimmung. Verlegte Taschen werden herumgereicht, Infomaterial nach Muttersprachen verteilt. Die Lokal- und Europa-Politiker lachen miteinander und erzählen sich von den letzten Wochenendausflügen. Der OB gibt sich nahbar. Aber er hat wenig Zeit. Mit Hingabe zeigt er die Besonderheiten seiner Heimatregion – vom ehemaligen Konzentrationslager in Sieniawka bis hin zum dreisprachigen Museumskalender, der im ehemaligen Franziskanerkloster in Zittau ausliegt, wo auch das kleinere der zwei kunsthistorisch bedeutsamen Zittauer Fastentücher ausgestellt ist.

Mit seinem Liberecer Amtskollegen tauschte Zenker mal die Wohnung, um das Pendlerleben auszutesten, wie es so viele Menschen in der Region führen. Mit seinem neuen Kollegen in Bogatynia könne er sich das auch vorstellen. Die beiden verbinden bisher offensichtlich vor allem Humor und Umweltschutzthemen. Als der Delegationsbus den Braunkohletagebau Turów ansteuert, sagt der polnische OB Wojciech Błasiak ironisch und mit verschmitztem Lächeln: „Die schönste Aussicht unserer Region!“ Der Tagebau und das dazugehörige Kohlekraftwerk seien Bogatynias größter Reichtum. Dennoch: „Wir wollen uns mehr in Richtung Umweltschutz weiterentwickeln!“ Und das wird er auch müssen: Denn 2044 sollen Kraftwerk und Tagebau Turów stillgelegt, das Baggerloch geflutet und als See rekultiviert werden.

Dabei sei die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wichtiger als die Konkurrenz, meint Błasiak. Von tschechischer Seite wird bislang kritisiert, dass das Grundwasser verschmutzt werde. Deutschland beklagt den Schadstoffausstoß in der Luft. Als lokaler Akteur sieht OB Zenker sich in dieser Frage eher als neutralen Vermittler. Zur Seite stehen ihm hier Vertreterinnen aus Most vom tschechischen Bezirk Ústí nad Labem (Aussig), der als erster europaweit das EU-Strategieprogramm „ReStart“ bis 2030 zur Rekultivierung einer Kohleförderregion absolviert.

„Drei-Länder-Eck! Das ist die einzige Zukunft, die wir haben“, macht Zenker klar. „Jeder, der mir hier mit Grenze kommt, darf wieder abtreten. Das hat null Zukunft. Ich glaube, hier ist viel mehr passiert, als eigentlich denkbar war“, sagt er über die Entwicklungen der letzten 15 Jahre. Und über die Zukunft: „Die Grenze, die jetzt schon kaum noch spürbar ist, wird in 15 Jahren auch in sozialer Hinsicht nicht mehr sichtbar sein. Das ist das Allerwichtigste!“

Dreiländer-Kulturhauptstadt

„Das ist auch der Grund, warum wir uns als Kulturhauptstadt bewerben“, so Zenker. Überzeugen will Zittau die Auswahlkommission mit seiner Internationalität, einer grenzübergreifenden Bewerbung sowie einer Reihe von Aktivitäten. „Wir können zeigen, wie Europa funktioniert – und zwar das Europa der Menschen, das Europa von unten! Das kann man in einer Grenzregion besser. Wenn wir es schaffen, das Thema Kulturhauptstadt hier zu verankern, dann schaffen wir auch, was wir am allermeisten brauchen: die Stärkung der Identität der Bewohner.“

Wer sich mit seinem Wohnort identifiziert, interessiert und engagiert sich auch eher. So wie Michaelas Mann Martin Herling. Er ist im Freundeskreis Kulturhauptstadt Zittau 2025 aktiv. Der freiberufliche Projektentwickler war bis Dezember 2018 zehn Jahre lang Student an der hiesigen Hochschule und hat zwei Abschlüsse. Herling vermisst eine umfassende Zukunftsvision für die Region: „Ich will, dass eine übergreifende Vision aus Bürgerhand entsteht. Ich hätte gern, dass Zittau sich vornimmt: ‚Wir wollen der Prototyp einer Transformation werden, die in Europa stattfindet!‘ Wir könnten Europa und der Welt zeigen, wie es aussieht, wenn man 2050 durch eine Stadt fährt. Wie kann das funktionieren? 

Durch Mobilität, Energie, Bildung und die komplette Gesellschaft.“

Zittaus Bewerbung um den Kulturhauptstadttitel ist außergewöhnlich: Die Stadt ist mit ihren 26.500 Einwohnern – Tendenz sinkend – viel kleiner als ihre acht möglichen Konkurrenten von Dresden und Chemnitz über Gera bis Nürnberg. Aber Zittau bewirbt sich mit Unterstützung seiner Nachbarn Liberec und Bogatynia sowie Görlitz. Außerdem hat nur Zittau im Vorhinein per Bürgerentscheid seine Bürger befragt, ob sie das überhaupt wollen.

Viele etablierte Kultureinrichtungen der Gegend unterstützen die Bewerbung. Im November 2018 gab es eine große Ideenwerkstatt im Kloster Marienthal – mit Görlitz und Bautzen, mit Bibliotheken, Theatern, Museen und weiteren Institutionen. „Wir wollten nicht das Rad neu erfinden, sondern bestehende Partnerschaften stärken und sichtbarer machen, sie nochmal näher an die Leute herantragen“ sagt Michaela Herlingová. Außerdem haben auch die Partnerstädte Bogatynia und Liberec ihre Unterstützung bekräftigt.

Die Bewerbung als Kulturhauptstadt könnte dem gesamten Dreiländereck langfristig und nachhaltig helfen, so hoffen die Aktiven. „Zittau kann entweder in der Lausitz verankert sein, in diesem deutschen Strukturwandel-Gebiet. Aber dann ist es eine Kleinstadt ganz am Rand. Da wären Bautzen, Görlitz, Cottbus viel stärker. Zittau ginge da unter. Oder es könnte Zentrum und Mittelpunkt einer Dreiländer-Region, einer Europa-Region, sein. Das ist eine Riesenchance!“, betont Herling. „Ich glaube an Zittau! Wir sind hier ein globales Dorf! Langsam kommt in den Köpfen an, dass die Grenzen offen sind, dass es eine gemeinsame Region sein kann. Es gibt viele grenzüberschreitende Projekte, in den letzten fünf Jahren noch mehr als in den zehn Jahren davor. Das nimmt stetig zu. Dafür wäre die Kulturhauptstadt ja irgendwie auch ein Ausdruck.“

Rechtspopulisten für Europa

Nicht in allen Bereichen läuft es so reibungslos, wie es sich die Aktiven und Enthusiasten wünschten. In der einst so personalstarken Textilindustrie sind nur noch etwa 1.000 Menschen beschäftigt. Maschinenbau- und Plastikunternehmen siedeln sich nur langsam in der Region an. Die große Hoffnung ist die stark mit der Wirtschaft zusammenarbeitende Hochschule Zittau/Görlitz. Einst reine Übersetzungsstudiengänge für Tschechisch und Polnisch wurden von Zittau nach Görlitz verlegt und beinhalten nun Wirtschaft und Sprachen. Neu ist eine Filiale des Fraunhofer Instituts auf dem Zittauer Campus. Hochschulrektor Friedrich Albrecht nannte bei einer Strategiepräsentation der Hochschule für die nächsten Jahre als Hauptziel, die Zahl von rund 3.000 Studierenden konstant zu halten. Es sei aber schwierig genügend Professoren zu finden, erzählt Herling.

Das Stadtbild von Zittau ist bunter geworden: Mehr Sprachen, mehr Farben, mehr Leben auf den Straßen. Auch seitdem Flüchtlinge dezentral in der Stadt untergebracht werden, nicht ohne Probleme natürlich. 2015 wurde der europafreundliche Zenker Zittaus OB. Zwei Jahre später konnte die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) aber genau hier ihre deutschlandweit besten Ergebnisse einfahren: Mit 32,4 Prozent lag sie hier sogar einen Prozentpunkt vor der CDU.

In ihrem Kommunalwahlprogramm für Mai gab sich sogar die AfD europäisch: In der Grenzregion sollten an den Schulen alle Nachbarsprachen vermittelt werden, hieß es, die Hochschule solle zu einer Europa-Universität werden. Seitdem die Region Geflüchtete aufnimmt, hat sich die Ablehnung von Fremden auf sie verschoben. Dabei sind gerade einmal 1.100 Asylsuchende (Stand 30.01.2019) im gesamten Landkreis Görlitz untergebracht – 2,3 Prozent der Einwohner. Von ihnen leben rund 60 Prozent in zentralen Unterkünften, 40 Prozent sind dezentral untergebracht. „Als Tscheche oder Pole hat man hier einen Sonderstatus, würde ich sagen“, meint auch die Tschechin Herlingová. „Vielleicht ist es Spekulation, aber meiner persönlichen Wahrnehmung nach gehören Tschechen und Polen schon dazu, zu den ‚Einheimischen‘, wenn es um Fremdenhass und Ausgrenzung geht. Die Ablehnung richtet sich viel mehr gegen jene Menschen, denen man ansieht, dass sie womöglich nicht aus Europa kommen.“

Manchmal treffe aber auch sie auf Ablehnung. Zuletzt habe ihr ein Mädchen vor die Füße gespuckt, als sie mit ihrem Sohn, Tschechisch sprechend, durch Zittau gelaufen sei. „Ich sagte ihr auf Deutsch: ‚Fräulein, wenn Du denkst, dass ich Dir nicht in Deiner Sprache klarmachen kann, dass mir Dein Verhalten nicht gefällt, dann irrst Du Dich aber gewaltig!‘ Das hat sie erstmal ein bisschen geerdet“, lacht sie. „Das war wirklich ekelhaft, aber es passiert selten.“ Ihr Mann sieht dieses Problem auch: „Da ist dieser Zwiespalt: Einerseits brauchen wir den Konsum. Es gibt ja auch schon Investitionen in Zittau, gleichzeitig aber auch unterschwellige Ressentiments. Sicher gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der das alles nicht so positiv sieht.“

Für und gegen Europa

Der 26. Mai war denn auch ein spannender Tag für das Dreiländereck. Im Bürgerentscheid um Zittaus Bewerbung zur Kulturhauptstadt war das Resultat eindeutig: Fast drei Viertel der Wählenden stimmten dafür: 74,2 Prozent. Die Bewerbung geht also weiter.

Auch die Wahlbeteiligung in Zittau spricht für sich, für ein gestiegenes Interesse an der Politik. Bei den Gemeinderatswahlen lag die Wahlbeteiligung um 15 Prozent höher, bei der Europawahl waren es sogar 30 Prozent mehr als 2014. Rund 58 Prozent der Wahlberechtigten stimmten ab. Auf kommunaler Ebene übertraf die AfD mit 23,7 Prozent nun Zenkers „Zittau kann mehr“ mit 18,7 Prozent. Bei den Europawahlen lag die euroskeptische AfD (28,7 Prozent) mit noch größerem Abstand vor der CDU (21,6), der Linken (11,9), den Grünen, der SPD und der FDP (alle unter 10 Prozent). In der Soziologie gilt ein Drittel als kritische Masse, die Stimmungen umwerfen kann. Die AfD steht kurz davor, diese Marke zu nehmen.

Das zeigte sich auch in der Kreis- und Europastadt Görlitz, Tür an Tür gelegen mit Zgorzelec an der Neiße, wo Ende Mai ein neuer Bürgermeister gewählt werden sollte. Nachdem der Polizist und AfD-Kandidat Andreas Wippel den ersten Wahlgang zwar mit 36 Prozent gewann, aber keine absolute Mehrheit erreichte, versammelten sich zum zweiten Wahlgang auch die Kandidatinnen der Grünen und Linken hinter dem rumänisch-stämmigen CDU-ler Octavian Ursu. Görlitz, das sich immer wieder als Europa-Stadt positionierte, hätte die erste Stadt mit einem AfD-Bürgermeister werden können. Viele bangten schon um den guten Ruf als Touristenregion und internationale Filmkulisse. Aber am Ende erhielt Ursu mit 55,2 Prozent die Mehrheit der Stimmen und verwies Wippelt auf Platz zwei.

Im Kreis Liberec sahen die Wahlergebnisse ähnlich aus wie in Zittau, wenn auch die Wahlbeteiligung mit 30 Prozent viel niedriger war. Die populistische Regierungspartei ANO lag mit 23 Prozent vorn, es folgten die liberal-konservativen STAN+TOP09 (16,6) und die Piraten (15,8). Die rechtsextreme SPD (Freiheit und direkte Demokratie) landete wie die Kommunisten unter zehn Prozent. In Bogatynia lagen PiS (Recht und Gerechtigkeit) und die Europäische Koalition als stärkste Parteien um die 40 Prozent gleich auf, mit großem Abstand zu den übrigen Parteien.

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Der europäische Traum ist aktuell. Aber nicht alle träumen ihn gleich. Er muss weiter geträumt, diskutiert, geformt und gepflegt werden.

Peggy LOHSE
Der Text erschien erstmals in dem deutsch-tschechischen Online-Magazin jádu

Einwohnerzahlen im Dreiländereck

„Kleines Dreieck” und Partnerstädte:

Zittau: 26.500
Hrádek nad Nisou: 7700
Bogatynia: 24.450

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Liberec: 104.000
Zgorzelec: 31.000
Görlitz: 56.000

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Euroregion Neiße 1,6 Millionen

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