Die Verleihung des Lothar-Kreyssig-Friedenspreises an Theo Mechtenberg im November ist für mich ein Anlass, auf die Anfänge der deutsch-polnischen Versöhnung zurückzublicken – auch mit einem Blick auf meinen eigenen Werdegang. Der Preis wird seit 1999 alle zwei Jahre in Magdeburg während der Ökumenischen Dekade für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung verliehen.
Lothar Kreyssig (1898-1986) war der einzige Jurist im Dritten Reich, der gegen die Euthanasiemorde der Nazis protestiert hatte. 1958 rief er in Magdeburg zur Gründung der Aktion Sühnezeichen auf. Junge Menschen sollten durch einen Arbeitseinsatz im Ausland ein Zeichen vom Sinneswandel in Deutschland geben.
Mut zum Widerstand
Kreyssig machte auf uns Jüngere einen gewaltigen Eindruck. Er hatte in der Nazizeit sein Leben für die Opfer der Euthanasie in die Waagschale geworfen. Wir Jüngeren standen jeden Tag vor der Frage, wieviel Anpassung ist uns in einem atheistischen Staat mit totalitären Tendenzen erlaubt, wie viel Widerstand ist notwendig und woher nehmen wir den Mut für diesen Widerstand? Für Mut zum Widerstand aus christlicher Überzeugung war uns Kreyssig ein leuchtendes Beispiel.
Damals war auch Günter Särchen (1927-2004) aktiv, ein Sachse, der nach dem Zweiten Weltkrieg in amerikanische Gefangenschaft geriet. Dort beschloss er, sein weiteres Leben als bewusster Christ zu führen. Seit 1958 arbeitete er in Magdeburg und wurde zu einem Mitstreiter Kreyssigs. Gemeinsam besuchten sie Auschwitz.
Durch den Mauerbau 1961 wurde auch die Aktion Sühnezeichen gespalten.
Der Katholik Särchen fuhr mit dem Protestanten Kreyssig nach Polen, um dort Kontakte zu knüpfen. Sie fanden Unterstützung in den Redaktionen der Zeitschriften des „Tygodnik Powszechny”, dessen Chef damals Jerzy Turowicz war, „Znak” und „Więzi” und in den Klubs der katholischen Intelligenz. Daraus wurden auch intensive Freundschaften. Erwähnt sei vor allem Anna Morawska, die 1970 ein Buch herausgab: „Ein Christ im Dritten Reich”. Am Beispiel Bonhoeffers zeigte sie der polnischen Öffentlichkeit, dass es auch ein anderes Deutschland gegeben hat. Dieses Buch hat viel zur Selbstfindung der demokratischen Opposition in Polen beigetragen. Tadeusz Mazowiecki und andere Aktivisten der Solidarność haben es gelesen und darüber diskutiert, als sie nach Ausrufung des Kriegsrechts gemeinsam inhaftiert waren.
Der Krakauer Bischof Karol Wojtyła, der für die Polen so wichtige spätere Papst Johannes Paul II, unterstützte von Anfang an die Aktion Sühnezeichen – für uns war er eine besonders wichtige Figur.
Särchen organisierte 1964 und 1965 Fahrrad-Pilgerfahrten aus der DDR nach Auschwitz. Er hatte die Idee, dass die Priester der Diözese Magdeburg Geld sammeln für Glocken, die in einer von Deutschen zerstörten polnischen Kirche aufgehängt werden sollten. Sie sammelten das Geld, die drei Bronzeglocken hängen heute in der St. Barbara-Kirche in Gdańsk.
1965 luden die polnischen Bischöfe zu den Tausendjahrfeiern des Christentums nach Polen ein. Die Einladung gipfelte in dem Satz: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung”. Die Bischöfe hatten 20 Jahre nach Kriegsende Krieg und Okkupation noch in schmerzhafter Erinnerung. Aber sie wollten Frieden für ihre Seelen und für ihr Volk, dazu war Versöhnung notwendig.
Das war ein Impuls für viele Christen in der DDR, sich für die Versöhnung mit Polen einzusetzen.
Schule der Demokratie und Völkerfreundschaft
Theo Mechtenberg (geb. 1928) war zu der Zeit katholischer Studentenpfarrer in Magdeburg. Er wollte, dass der Brief der polnischen Bischöfe mit Leben erfüllt wird. Darin wusste er sich einig mit Särchen und Kreyssig. Er warb dafür besonders unter den Studenten.
1967 verbot die DDR die Aktivitäten der Aktion Sühnezeichen außerhalb der DDR mit der Begründung: Die DDR brauche nicht um Vergebung zu bitten, die Nazi-Verbrecher seien alle in Westdeutschland.
Von da an wurden die Arbeitseinsätze der Aktion Sühnezeichen außerhalb der DDR „inoffiziell” organisiert. Günter Särchen hat mich geworben. So fuhr ich 1968 zum ersten Mal nach Polen, um mit einer Gruppe Gleichaltriger in Majdanek zu arbeiten. Wir fuhren alle individuell hin. „Zufällig” trafen wir uns dort. „Zufällig” war für uns Quartier und alles Notwendige organisiert. „Zufällig” blieben wir 14 Tage zusammen.
Wir waren jung, wir wollten etwas tun, damit sich nicht wiederholt, was unsere Eltern erleben mussten. Wir wollten Christsein leben in einer atheistischen Umwelt.
Wir verstanden uns prächtig, auch mit den Polen, aber da war die Sprachbarriere. Deshalb beschloss ich, polnisch zu lernen, um Verständigung möglich zu machen. Daraus wurde für mich eine Lebensaufgabe.
Viele aus der demokratischen Opposition in der DDR haben den widerständigen Geist in Polen kennengelernt und übernommen. Dazu gehörte zum Beispiel Ludwig Mehlhorn, der später Geld für die Bürgerrechtsbewegung KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) sammelte und nach 1990 sich intensiv am Aufbau der Gedenkstätte Kreisau beteiligte.
Die Aktion Sühnezeichen war für uns eine Schule der Demokratie und der Völkerfreundschaft.
Christ und Obrigkeit
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte überall Spitzel, auch in den Kirchen, auch in der Aktion Sühnezeichen. Das ist traurig, aber wahr. Theo Mechtenberg hatte viele Spitzel in seiner Umgebung. Als Studentenpfarrer hatte er das Vertrauen junger Menschen, aber er nutzte es nicht im Interesse des sozialistischen Staates, das machte ihn für den Staat besonders gefährlich.
Heute ist wenig bekannt, dass die deutsch-polnische Versöhnung gegen Widerstände auch innerhalb der Kirchen durchgesetzt werden musste. Da waren die, die ihr Leben unter das Bibelwort stellten: „Ein Christ sei untertan aller Obrigkeit”. Egal ob Hitler oder Ulbricht, ein Christ hatte zu gehorchen, das war Gottes Wille.
Andere waren aus der Heimat vertrieben worden, hatten Repressalien, ja Gewalt von Polen erlebt und konnten das nicht vergessen.
Noch andere hatten Angst. Dazu gehörte der katholische Bischof von Berlin Alfred Bengsch. Konsequent vermied er jede Konfrontation mit der SED. Er hatte ein warnendes Beispiel vor Augen: Kurt Scharf war im Februar 1961 evangelischer Bischof in Berlin geworden. Er wohnte in Ostberlin, war aber auch Bischof für West-Berlin. Die evangelische Kirche fiel bei der SED vollends in Ungnade, weil sie gegen den Mauerbau im August 1961 protestierte und forderte, dass jederzeit Verwandtenbesuche möglich sein müssen. Am 31.08.1961 besuchte Bischof Scharf mit Erlaubnis der DDR-Behörden Westberlin. Abends wurde ihm die Wiedereinreise in die DDR verweigert. Bengsch wollte auch weiterhin nach Westberlin fahren können, wo sich auch seine Diözese befand, also verhielt er sich „unpolitisch” und forderte dasselbe von den katholischen Priestern.
Versöhnung als Aufgabe
Wir Jüngeren haben oft unter der Ängstlichkeit der Älteren gelitten, aber ich habe sie verstanden. Die Hitlerzeit und die Stalinzeit steckte ihnen noch in den Knochen. Mechtenberg und Särchen gehörten nicht zu den Ängstlichen. Oft waren sie auch ihren kirchlichen Vorgesetzten unbequem. Beide wurden intensiv überwacht. Mechtenberg auch, als er eine Polin heiratete und nach Wrocław zog. Dann zog er 1979 mit seiner Frau in die Bundesrepublik.
Auch dort ist er der selbstgewählten Aufgabe, Mittler der Versöhnung und Verständigung zu sein, treu geblieben. Auch in der BRD wurde Mechtenberg intensiv von der Staatssicherheit observiert. Es hat die DDR und den Sozialismus nicht gerettet.
Jahrtausendworte
Der erste Lothar-Kreyssig-Friedenspreisträger war 1999 Tadeusz Mazowiecki. Weitere Preisträger waren unter anderem die Weiße-Rose-Mitstreiterin Hildegard Hamm-Brücher, die sich nach dem Krieg im Jugendaustausch zwischen Deutschen und Osteuropäern und im christlich-jüdischen Dialog engagierte; Günter Särchen; der Pfarrer Hans Richard Nevermann, Teilnehmer der Aktion Sühnezeichen; Franz von Hammerstein, Häftling in Dachau und nach dem Krieg Teilnehmer der Aktion Sühnezeichen sowie Mitarbeiter im Museum Topografie des Terrors in Berlin und der Jugendbegegnungsstätte Kreisau; Joachim Garstecki, katholischer Theologe und aktiv in der ökumenischen und der Friedensarbeit; der Verein „Oekumenischer Dienst Schalomdiakonat”; Helmut Morlok, Mitinitiator der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz und Gunter Demnig, Erfinder der „Stolpersteine”.
Heute steht die deutsch-polnische Versöhnung, die Versöhnung in Europa vor neuen Aufgaben. Sie sind nur zu meistern, wenn alle die Jahrtausendworte der polnischen Bischöfe beherzigen: Wir vergeben und wir bitten um Vergebung.
Erich BUSSE
Emeritierter Pastor, Teilnehmer der Aktion Sühnezeichen und Mitarbeiter des „Tygodnik Powszechny”, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und 1989 Mitinitiator freiheitlicher Bürgerrechtsbewegungen in Ostberlin, erhielt den Pater-Albert-Chmielowski-Preis und den Missio- -Reconciliationis-Preis