„Wahrscheinlich hat die polnische Kultur in Deutschland mehr Spuren hinterlassen als irgendeine andere Kultur”, schreiben die Autoren im Vorwort des umfangreichen Lexikons „Polnische Spuren in Deutschland”: Dieter Bingen, Andrzej Kaluza, Basil Kerski und Peter Oliver Loew.
Das sogenannte „Lesebuchlexikon” erschien vor zwei Monaten auf Initiative des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und der Bundeszentrale für politische Bildung (bislang nur auf Deutsch). Die Genre-Bezeichnung legt nahe, dass man das Buch einfach lesen kann und nicht nur die Seiten nach bestimmten Informationen durchblättert. Deutsche Leitmedien haben es bereits positiv bewertet.
Das Buch enthält 250 Stichwörter und Dutzende Bilder auf mehr als 450 Seiten im Großformat. Mit einem traditionellen, aus allgemeinen, ähnlich zusammengesetzten Stichwörtern bestehenden Lexikon hat es wenig zu tun. Man liest es mit Spannung, weil einen sowohl der Informationsgehalt der Stichwörter als auch ihre Dramaturgie absorbieren. Keine Überfrachtung mit Fakten, keine trockene Sprache – im Gegenteil: belletristisch aufbereitete Biogramme, Mini-Essays über Personen, Ereignisse, Ehepaare, Kunst, Sport, Küche – also über die vielfältige Alltagskultur, alles mit meisterhaft verborgener Disziplin geschrieben. Man kann das Lexikon lesen wie einen Band Erzählungen.
Seine Autoren haben sich die Arbeit insofern erleichtert, als dass sie sich auf die polnischen Spuren in den Grenzen des heutigen Deutschlands beschränken – von Usedom und der Oder bis zum Rhein. Hätten sie alle Gegenden berücksichtigt, die in der Geschichte zu Deutschland gehört haben, wäre das wohl ein unmögliches Unterfangen geworden. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass man über diese Regionen nicht nachdenken sollte.
Das Lexikon macht bewusst, wie sehr oder gar wie untrennbar die Geschichte Polens und Deutschlands miteinander verflochten ist. Das ist keine Überraschung – angesichts tausend Jahren Nachbarschaft, in denen Menschen über Grenzen gewandert sind und sich Grenzen verschoben haben. Von der Nähe zeugt zum Beispiel die Tatsache, dass Mieszko der Erste, der mit den Markgrafen kämpfte (aber auch mit den slawischen Wilzen) und ein Vasall des Kaisers war, eine Tschechin heiratete und dann eine Deutsche. Die Töchter der deutschen Dynastien ehelichten auch seine Nachfahren. Bei den Jagiellonen war es kaum anders: sie verheirateten ihre Töchter mit den Fürsten aus den deutschen Herrschaften (einer von ihnen hätte König von Polen werden können). Übrigens sah die Verfassung vom 3. Mai die Schaffung einer dauerhaften sächsisch-polnischen Union mit Erbthronfolge vor.
Dann folgten die Teilungen Polens, die nicht die Deutschen vornahmen, sondern ein damals mit Sachsen konkurrierender deutscher Staat: Preußen. Die polnisch-deutschen Brücken sprengte der Zweite Weltkrieg und bis heute baut man sie wieder auf, denn aufzubauen ist immer schwerer als etwas kaputt zu machen.
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Die Polen wanderten nach Westen, die Deutschen – nach Osten, daher gibt es im Lexikon viele Stichworte zu wechselseitigen Einflüssen beider Kulturen. Ein Stichwort verweist darauf, dass Preußen durch die Teilung Polens de-facto zu einem binationalen Staat wurde, dessen dritter Teil die polnischen Länder und die polnische Bevölkerung wurden. Ende des 19. Jahrhunderts lebten mehr Polen in Berlin als in irgendeiner polnischen Stadt, mehr als in Krakau, Lemberg und Warschau. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Wiedererlangten Unabhängigkeit Polens verließen 12.000 Polen Berlin in Richtung Heimat. Darunter der alte Ferdinand Radziwiłł, langjähriger Abgeordneter des Reichstags und im unabhängigen Polen Ältester Sejmmarschall der Verfassungsgebenden Versammlung. Sein Mandat im Reichstag wurde ihm nicht zum Vorwurf gemacht.
Die Mischung beider Nationen bezeugt ein Zitat im Lexikon von Johannes Bobrowski, das ein Dorf in Westpreußen in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts beschreibt: „Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski, und die Polen Lembrecht und Germann.” In einem anderen Stichwort findet man die Information, dass der aus Zabrze stammende deutsche Kinderbuchautor Janosch erzählt, dass seine Großeltern mit dem altdeutschen Familiennamen Eckert kein Deutsch sprachen, während die Großeltern der anderen Seite den polnischen Namen Głodny trugen und Deutsch sprachen. Der Großvater von Angela Merkel war der Pole Ludwik A. Kaźmierczak aus Großpolen, und Schauspielerin Natalia Avelon schrieb: „Klar bin ich Deutsche. Mit polnischen Wurzeln, polnischer Familie und Geschichte.”
Das Lexikon beschreibt noch mehr solcher engen polnisch-deutschen Verbindungen. Zum Beispiel die berühmte bayerisch-jagiellonische Landshuter Hochzeit, oder dass der sächsische Fürst Georg seine Frau Barbara von Polen so liebte, dass er sich nach ihrem Tod nicht mehr rasierte und als Georg der Bärtige in die Geschichte einging, oder dass Prinz Wilhelm, später Kaiser Wilhelm I., beinahe eine Polin geheiratet hätte – die von ihm geliebte schöne Prinzessin Elisa Radziwill.
Niemand wird wohl je zählen können, wie viele deutsch-polnische Ehen es gab und gibt. Die Lexikonautoren geben an, dass zwischen 1969 und 2014 130.000 solcher Ehen geschlossen wurden. Man schätzt, dass heute 13 Prozent der deutschen Namen polnischer Herkunft sind. Nowak oder Nowack ist einer der am meisten vorkommenden Nachnamen in Berlin. In ganz Deutschland ist er verbreitet.
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Polnische Spuren westlich der Oder, das sind auch die seit Jahren tätigen polnischen Institutionen: Radio Freies Europa in München, die Unterstützung der Solidarność-Bewegung, spontane Hilfe von Bürgern vor allem aus Westdeutschland für Polen während der Zeit des Kriegsrechts (wie zuvor für die Emigranten nach den Aufständen im 19. Jahrhundert), Fußballer (Klose, Podolski, Błaszczykowski, Lewandowski), Autos, die zum Derby beider Nationalmannschaften polnisch und deutsch beflaggt sind, Menschen, die ins andere Land zur Arbeit pendeln, russische Piroggen, Bigos, polnische Busse und Züge.
Das Lexikon enthält auch Stichwörter zu polnischen Künstler*innen, die in Deutschland wirken oder gewirkt haben, Schriftsteller, darunter Stettiner*innen wie Brigitta Helbig, Krzysztof Niewrzęda, Magdalena Parys, Musiker, Komponisten und Wissenschaftler*innen.
Auch populäre Kultur und Subkultur haben ihren Platz. Einer der beliebtesten DJs in Deutschland ist Tomekk, ein Krakauer. In aller Munde ist die Rapperin „Schwesta Eva” aus Koszalin oder die Breslauerin Teresa Orlovski.
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Natürlich findet sich im Lexikon nicht alles, das drin sein könnte. Nach wie vor wenig bekannt ist die Emigration aus Polen nach Deutschland direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch die vielfältige Gegenwart. Trefflich wurde der Begriff „Polenmarkt” in das Lexikon aufgenommen, schade, dass es nicht auch den „polenmARkT” – das Greifswalder Festival, enthält.
17 Autor*innen verfassten die Artikel, die meisten sind von Peter Oliwer Loew, Forscher am Polen-Institut in Darmstadt und unter anderem Autor der Monographie „Wir Unsichtbaren. Die Geschichte der Polen in Deutschland” (2014).
Erwähnt werden sollte, dass dem Lexikon andere Bücher (und Ausstellungen) vorausgingen, darunter über schlesische Berliner, Polen im Ruhrgebiet, Robert Trabas Arbeit über polnische Spuren in Berlin oder Wolfgang Nichts Buch über Polen in Dresden.
Das Lesebuchlexikon macht uns Ausmaß, Tiefe und Allgegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen klar. Es ist ein Buch für alle. Die Chance ist hoch, dass es sogenannte Durchschnittsleserinnen und -leser erreicht, um „das große Werk zu verrichten”, Wissen über die Verflechtung der Kulturen zu verbreiten. Es muss ins Polnische übersetzt werden.
Die Arbeit des Lernens und Popularisierens der wechselseitigen Kulturbeziehungen muss weitergehen. Schwieriger wäre sicherlich ein Parallelwerk über die deutschen Spuren in Polen zu erarbeiten, aber nützlich wäre es umso mehr.
Vielleicht wäre es sinnvoll, auf die alte Idee eines deutsch-polnischen Museums an der Grenze zurückzukommen? Solche und ähnliche Museen – Dialogzentren – sollten vielleicht an den Grenzen mit allen Nachbarn entstehen – heute, wo in Europa Nationalismen an Boden gewinnen.
Schließlich bleibt der Hinweis, dass heute rund zwei Millionen Polen oder Menschen polnischer Herkunft in Deutschland leben. Viele tausend Menschen fahren über die Grenze zur Arbeit. Wie stark die grenzübergreifenden Verbindungen sind, sieht man auch auf den Autobahnen, vor allem vor den großen Feiertagen. Kluge Politiker und jene, die Einfluss auf die aktuelle Politik haben – Publizisten und Journalistinnen – sorgen dafür, dass der Verkehr flüssig und störungsfrei verläuft. Leider sind nicht alle klug.
Paweł MALICKI
Aus dem Polnischen von Nancy WALDMANN
Dieter Bingen, Andrzej Kaluza, Basil Kerski, Peter Oliver Loew (Hrsg.), Polnische Spuren in Deutschland. Ein Lesebuchlexikon, Seiten: 452. Verlag Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, ISBN 978-3-8389-7171-1
Beispielseiten des Buches: www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/einzelveroeffentlichungen/polnische-spuren-in-deutschland
Piotr Mordel im Club der Polnischen Versager, Berlin
Aus dem Polnischen von Nancy WALDMANN