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Roter Wein – rotes Blut

Data publikacji: 26 lipca 2018 r. 09:30
Ostatnia aktualizacja: 27 lipca 2018 r. 11:20
Roter Wein – rotes Blut
 

Lucia und Manfred Zühlke sind stolz auf ihre Kinder. Die Tochter arbeitet an der Hochschule in Neubrandenburg, der Sohn ist in Autos vernarrt, genau wie sein Vater. Beide sprechen fließend Polnisch, die Tochter ist Polnisch-Lektorin an der Hochschule.

Nach der Wende haben Lucia und ihr Ehemann Manfred 42 Länder in der ganzen Welt bereist, und sie waren sogar in der Antarktis. Sie reisen innerhalb Deutschlands, fahren sehr oft nach Polen, am häufigsten nach Stettin, wo sie sich kennengelernt haben.

Vor einiger Zeit erreichte die Redaktion des „Kurier Szczeciński” ein Brief aus Neubrandenburg. Manfred Zühlke schrieb, er möchte eine Geschichte erzählen, die für Leser*innen des „Kurier” vielleicht interessant wäre und darüber hinaus die „Kontakte zwischen beiden Völkern stärken” könnte.

Als Lucia das Zimmer verlässt, um das Essen zuzubereiten, sagt Manfred: „Den Brief habe ich an die Redaktion des Kurier geschickt, weil mir aufgefallen ist, dass meine Frau diese Zeitung liest. Das war schon früher so und ist es auch jetzt. Wenn wir in Stettin sind, sucht sie immer einen Kiosk, um die aktuelle Ausgabe zu kaufen. Zu Hause setzt sie sich in den Sessel und liest. Ich bewege mich dann auf Zehenspitzen.

Als Manfred das Zimmer verlässt, sagt Lucia: „Mein Mann hat diesen Brief geschrieben. Er hat mir nichts davon gesagt. Ich habe es erst erfahren, als Sie mich angerufen haben.”

Der Brief enthielt eine Einladung an die Redaktion zur Goldenen Hochzeit. Die Feierlichkeit wird in der katholischen Kirche St. Josef – St. Lukas in Neubrandenburg stattfinden. Sie wurde 1980 gebaut. Das alte Kirchlein aus dem Jahre 1907, das seinerzeit vor allem den polnischen Schnittern und Erntehelferinnen diente, war wegen einer Straßenerweiterung der Abrissbirne zum Opfer gefallen. „Anfang des 20. Jahrhunderts kamen sie aus Polen hierher zur Arbeit”, berichtet Lucia. Manfred betont, seine Frau sei sehr religiös und eine große polnische Patriotin. In Deutschland spreche man ja eher nicht von Patriotismus.

„Die Deutschen haben eine andere Geschichte. Sie hatten den Nationalsozialismus und haben den Zweiten Weltkrieg begonnen, da kann man nicht so einfach von Volk, Nation und Patriotismus reden”, betont Lucia.

Zum Mittagessen gibt es Kartoffeln, Gulasch, frisch eingelegte Salzgurken, Salat mit Sahnesoße, so wie in Polen.

„Die polnische Küche ist sehr interessant” findet Manfred. „Meine Frau hat schon vielen in Neubrandenburg beigebracht, wie man Bigos zubereitet.”

Wenn Gäste kommen, heißt es oft: „Mach doch was Polnisches”. Dann kocht sie eine Rote-Beete-Suppe, bereitet Piroggen, Hackfleisch-Kotelett, Bigos zu. Und vor dem Essen wird immer ein Gebet gesprochen.

Das Ehepaar wohnt im zweiten Stockwerk einer DDR-Plattenbausiedlung mit sehr vielen Treppenhäusern in der Ihlenfelder Vorstadt.

Lucia wurde im Gebiet von Wilna, heute in Litauen, geboren, Manfred in Stargard/Pommern, heute in Polen. Seine Mutter kam aus dem heutigen Chociwel (früher Freienwalde), der Vater aus dem heutigen Ińsko (früher Nörenberg). Während des Krieges kämpfte Lucias Vater in der polnischen Heimatarmee, der größten militärischen Widerstandsorganisation zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, Manfreds Vater in der Wehrmacht in Rumänien. Als sie sich zum ersten Mal von Schwiegervater zu Schwiegervater trafen, haben sie vieles miteinander besprochen. Sie einigten sich darauf, für die Zukunft zu leben und sich nicht auf die Vergangenheit zu beschränken, denn in Zukunft solle es besser sein.

Nach dem Krieg fuhr Lucia mit den Eltern und fünf Geschwistern nach Stettin. Sie wohnten in Zdroje (früher Finkenwalde) in der Walecznych-Straße.

Zu Beginn des Jahres 1945 ordneten die Nazibehörden in Stargard die Evakuierung der Stadt an. Manfred, im Alter von vier Jahren, und seine Mutter gingen zu Fuß, er im Kinderwagen, nach Stettin, dann kamen sie über die Autobahn nach Berlin zur Familie. Manfred sagt nur knapp, es sei schrecklich gewesen. Später erzählte ihm seine Mutter davon, und er erinnerte sich an Gefühle von Angst und Hunger. In Berlin blieben sie nicht lange. Sie landeten in der britischen Besatzungszone, im Jahr 1947 befanden sie sich in Demmin, in der russischen Besatzungszone.

Manfreds Vater kam nach Hause. Die Zeit verging, er sehnte sich nach Stargard, der Heimat. 1966 sagte Manfred zu ihm: „Wir fahren hin.” Damals war er schon glücklicher Besitzer einer Wartburg. Sie besorgten sich Pass und Visum und fuhren los.

Sie fuhren durch das dem Vater eigentlich vertraute Stettin. Aber als sie in der Stadt waren, verstand er, dass das zwar auf das deutsche Stettin aber nicht auf das polnische Szczecin zutraf. Das Berliner Tor, heute Brama Portowa (Hafentor), erkannte er, aber sie standen ratlos an der Autobus-Haltestelle und hatten keine Ahnung, wie sie nach Stargard kommen sollten. Dann trat ein Mann zu ihnen, der hörte, dass sie Deutsch sprachen.

„Das war wie ein Wunder”, erzählt Manfred, „denn er sprach fließend in unserer Sprache. Als ich fragte, woher er Deutsch könne, antwortete er, er sei zwei Jahre lang Häftling in Auschwitz gewesen. Wir waren bedrückt. Das muss er in unseren Gesichtern gelesen haben.”

Irgendwie gelang es ihnen, ihr Problem klar zu machen. Daraufhin erklärte er, wie man nach Stargard komme und erzählte ihnen in wenigen Worten die Geschichte seines Lebens. Er hieß Marian Gnyp und arbeitete als Bauingenieur. Schließlich lud er sie zu einem Tee in seinem Haus ein. Er wohnte im Stadtviertel Pogodno (früher Braunsfelde), in der Reymonta-Straße. Dort bot er ihnen beim Tee eine Übernachtung im Gästezimmer an.

Abends führte Marian Gnyp sie in die „Kaskaden”, damals ein berühmtes Vergnügungskombinat. Auch Arbeitskolleg*innen waren gekommen, darunter ein junges Mädchen, eine schlanke Blondine, in Manfreds Worten „eine sprichwörtliche polnische Schönheit”, in die er sich vom ersten Moment an über beide Ohren verliebte. Sie tanzte wunderbar. Sie sprach kein Deutsch und er kein Polnisch. Aber die Musik spielte und sie tanzten bis zum Morgengrauen.

Am nächsten Tag fuhren sie nach Stargard. Das Stadtzentrum war so zerstört und verändert, dass Manfreds Vater die Heimatstadt nicht wiederfand. Er begriff schnell, dass das schon nicht mehr seine Stadt war.

Vor der Rückkehr in die DDR Lucia und Manfred tauschten ihre Adressen aus. Dann kamen Briefe. Lucia arbeitete für Theater in Stettin. Sie stellte Perücken her. Bis heute hat sie dort Bekannte und die Freundin Maryla aus damaliger Zeit. Manfred arbeitete in einem Handelsunternehmen.

„Anfangs übersetzte der Bruder meiner Frau unsere Briefe. Er studierte Germanistik. Jeder Brief von meiner Frau endete mit ‚heißen Küssen’, was mir sehr gefiel. Als sie später diese Briefe sah, stellte sich heraus, dass ihr Bruder es eigenmächtig so formuliert hatte. Offensichtlich zu Recht, denn er hat gefühlt, wie es zwischen uns stand.”

Immer öfter besuchten sie sich gegenseitig, einmal blieben sie länger zusammen. „Bis meine Mutter eines Tages zu mir sagte, ‚Warum schreibt und fahrt Ihr denn immer hin und her, heiratet doch’.”

Das musste nicht zwei Mal gesagt werden, aber behördliche Formalitäten waren zu erledigen, und das war gar nicht so einfach. Zunächst wohnten sie im pommerschen Demmin, dann zogen sie ins mecklenburgische Neubrandenburg um. Manfred wurde Direktor des Unternehmens, seine Frau Lucia führte den Haushalt. Er sagt, er hätte sich nicht damit abfinden können, wenn eine so schöne junge Frau im Morgengrauen aufstehen, zur Arbeit gehen und später auch noch Einkäufe erledigen müsse. Sie konnte schon Deutsch, also betätigte sie sich oft als Übersetzerin bei deutsch-polnischen Zusammenkünften.

Dann kamen die Kinder, zuerst die Tochter, dann der Sohn. An Arbeit fehlte es im Haushalt nicht. Dazu trug auch die von ihnen praktizierte Gastfreundschaft bei. Ihr Haus war immer ein Ort für freundschaftliche Diskussionen, die sich bis zum nächsten Morgen hinzogen. Das interessierte nicht nur Freund*innen, sondern auch den DDR-Staatssicherheitsdienst, der in Neubrandenburg über eine mächtige Niederlassung verfügte. Heute gibt es dort ein für alle zugängliches Museum.

Manfred erzählt, er habe nach dem Zusammenbruch der DDR seine umfangreiche Akte studiert. Dort seien noch die überraschendsten Kleinigkeiten notiert worden.

Sie beschlossen, dass die Tochter die polnische Staatsbürgerschaft und der Sohn die der DDR annehmen sollte. Lucia und die Tochter hatten also polnische Pässe und konnten in den Westen ausreisen, Vater und Sohn als DDR-Staatsbürger nicht. So kam es dazu, dass sie sich in Berlin am Checkpoint Charly trennen mussten. Die Kinder konnten lange nicht verstehen warum.

„Als ich das erste Mal im Westen war, war ich schockiert. Wieder zu Hause fragte ich Manfred, hast Du eine Ahnung wie es dort ist …?”

„Gott sei Dank, dass wir diese Zeiten hinter uns haben” ergänzt Manfred.

Währenddessen begann in Polen die Krise, Einführung von Lebensmittelkarten, Streiks im August 1980, die Gewerkschaft Solidarność, die DDR schaffte den freien Grenzverkehr mit Polen ab. Die Familie in Polen, der es an allem fehlte, musste unterstützt werden. Aber sie halfen nicht nur der eigenen Familie, so auch später, als in Polen das Kriegsrecht eingeführt wurde. In der DDR fehlten nach und nach ebenfalls Waren auf dem Markt. Gleichzeitig wurde die demokratische Opposition aktiver und stärker, es kam zu Aufruhr und Manifestationen der Unzufriedenheit. Manfred schloss sich der Bürgerbewegung des Neuen Forums an und beteiligte sich zunehmend aktiver an der Widerstandsbewegung. Er arbeitete damals mit Alfred Gomolka zusammen, einem Christdemokraten, der nach der deutschen Wiedervereinigung zum ersten Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns wurde. Beide befreundeten sich eng mit Rainer Prachtl und dessen Frau Regina. In der DDR hatte Prachtl bei der Caritas gearbeitet, gegen Ende der Ära Honecker gründete er das Neue Forum mit. Nach der Wiedervereinigung wurde er in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gewählt und war während der ersten beiden Legislaturperioden Landtagspräsident. In Neubrandenburg gründeten sie 1990 den Dreikönigsverein, der ein ambulantes und stationäres Hospiz führt. Dort sind sie immer noch aktiv.

„Als Rainer Landtagspräsident war, fuhr er einmal zu einem offiziellen Besuch nach Polen. Die schwarze Limousine mit deutscher und polnischer Flagge kam bei mir vorbei. Für mich war das ein großes Ereignis, mit einem Auto und zwei Flaggen zu fahren”, sagt Manfred.

Die Zühlkes kennen alle aktuellen Nachrichten aus Polen, besonders Lucia. 2007 kam Lech Wałęsa auf Einladung des Dreikönigsvereins nach Neubrandenburg. Zum Treffen mit Wałęsa am Tag der Heiligen Drei Könige kamen mehr als 1000 Personen. „Er hat dort einen interessanten Vortrag gehalten”, erinnert sich das Ehepaar Zühlke.

* * *

Das Essen in der Wohnung in der Ihlenfelder Vorstadt geht dem Ende zu. Man möchte sich noch länger unterhalten, denn die Berichte des Ehepaars Zühlke schmecken und riechen wie ein auf dem Tisch stehender, geöffneter, erlesener französischer Rotwein. Vielleicht folgt ja irgendwann eine Fortsetzung.

„Beide sind wir in Polen und in der DDR unter zwei Regimen herangewachsen, in benachbarten Staaten, die theoretisch befreundet waren” sagt Manfred. „Wir haben verstanden, dass wir uns irgendwie anpassen mussten, aber wir wussten auch, dass unsere Welt um vieles schöner und besser sein könnte und zwar für alle Menschen auf der Erde, wenn sie sich besser kennen und verstehen lernen. Bei einem Menschen in Afrika, der sich mit dem Messer in die Hand schneidet, fließt rotes Blut. Und bei uns? Auch rotes Blut.”

Am 10. August feiern Lucia und Manfred Zühlke in Neubrandenburg ihre Goldene Hochzeit, das Bestehen ihrer 50-jährigen Ehe. Zur feierlichen Messe sind Freund*innen eingeladen, die Redaktion des „Kurier Szczeciński” ebenfalls.

Bogdan TWARDOCHLEB

Aus dem Polnischen von Ruth HENNING

Lucia (Mädchenname Stankiewicz) und Manfred Zühlke mit den Blumen auf Ihren Balkon 

Foto: Bogdan TWARDOCHLEB

Das junge Paar,1968

Foto: FAMILIENALBUM

Lucia und Manfred Zühlke mit Lech Wałęsa in Neubrandenburg 

Foto: FAMILIENALBUM

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